Volltext des Wassilko-Protokolls


Österreichisches Staatsarchiv
Generaldirektion
Wien 1., Minoritenplatz 1
ZI 2249/55
Niederschrift vom 5. September 1955 
Anwesend:
Misteriallrat Dr. Wilhelm Sickinger 
wirkl. Hofrat Dr. Wolfgang Kotz 
wirkl. Hofrat Dr. Meinrad Rohracher
Gräfin Zoë Wassilko-Serecki, eingeladen auf das Schreiben vom 27. August 1955
Staatsarchiv. II.  Kl.  Dr. Erika Weinzierl, Schriftführer

Gräfin Zoë Wassilko-Serecki teilt nach Verlesung ihres Schreibens mit:

Ich fühle eine Verpflichtung zu meinen Angaben deshalb, weil sie dem Staat und dem Österreichischen  Staatsarchiv für die Kenntnis und Erforschung vergangener Vorfälle wichtig sein müssen, will aber nicht, daß über meine Angaben derzeit etwas an die Öffentlichkeit dringt.  Ich befand mich in Oktober 1919 auf Schloß Ellischau, Graf Heinrich Taaffe erzählte mir, daß er Akten verwahre, die sein Vater bei dem Weggange aus dem Staatsdienst aus dem Staatsarchiv mitgenommen habe. Er gedenke, diese Akten zu verbrennen, weil sich die Verhältnisse geändert hätten.  Er händigte mir ein längliches Kouvert aus, das 20-30 Bogen starkes Papier enthielt.  An der linken oberen Ecke befanden sich eingeprägte Stempel. Es war der Notenwechsel zwischen dem Ministerpräsidenten Graf Taaffe und dem Polizeipräsidenten Baron Krauß. Die einzelnen Stücke waren mit "Streng reservat" bezeichnet.  Es ist mir in Erinnerung, daß in den Noten hauptsächlich von den polizeilichen Maßnahmen und den Eindrücken der nach Mayerling entsandten Kommission die Rede war.  U. a. waren das Todeszimmer und die Lage der Leichen beschrieben.  Als besonderes Detail ist mir in Erinnerung, daß von Gehirnspritzern des Kronprinzen an den Wänden die Rede war.  Aus dem Munde der Baronin Vetsera führte ein gestockter Blutstrom bis zu den Füßen.  Die Stücke enthielten auch einen Obduktionsbefund beider Leichen durch einen Pohzeiarzt. Ich weiß nicht mehr, ob es ein Original oder eine Abschrift war. jedenfalls ist mir der eine Umstand in sicherer Erinnerung, daß sich Baronin Vetsera im 5. Monat der Schwangerschaft befand.

Graf Heinrich Taaffe teilte mir, nachdem ich ihm das Konvolut zurückgegeben hatte - es war am nächsten Tag - mit, daß er die Schriftstücke verbrannt habe.

Später ist dann das Gerücht aufgetaucht, die Aktenstücke seien bei einem Brand der Bibliothek des Schlosses Ellischau vernichtet worden.  Die Schriftstücke befanden sich jedoch niemals dort, sondern im Archiv des Schlosses, das räumlich weit von der Bibliothek entfern war.

Mein Großvater, Baron Krauß, hat über den Fall Mayerling niemals gesprochen. Die gegenwärtig von einer Zeitung veröffentlichten Aktenstücke habe ich nicht gesehen Ich habe auch nie etwas von ihrer Existenz gewußt, kann daher zur Feststellung ihrer Authentizität nichts beitragen.  Ich möchte nur darauf hinweisen, daß die erste Seite des veröffentlichten Konvoluts, so wie sie in der Zeitung abgebildet ist, nicht die Schriftzüge meines Großvaters enthält.  Hingegen zeigen die weiteren Kopien aus dem Inhalt des Konvoluts die Schriftzüge meines Großvaters, die ich gut kenne, weil ich von ihm noch Briefschaften verwahre.

Ich füge dem Protokoll eine Schriftprobe meines Großvaters, Baron Krauß, aus dem Jahre 1919 sowie seine Photographie bei. In der Schriftprobe ist das berufliche Verhältnis meines Großvaters zu dem Ministerpräsidenten Taaffe erwähnt. Die Bemerkung über die kleinen Episoden, die jetzt mit Humor zu beurteilen seien, betrifft meiner Erinnerung nach einen Jungenstreich des Grafen Heinrich Taaffe.

Zoë Wassilko-Serecki, Dr. Wolfgang Kotz, Dr. Sickinger; für die Richtigkeit der Abschrift Felsleitner; Dr. Rohracher, Dr. Weinzierl.

Dokument 3:

Abschrift meiner Notizen zum Protokoll, das ich am 5. September 1955 im Hof- und Staatsarchiv um 12 Uhr 28 Mittags MEZ unterschrieben habe, und zwar vor folgenden Zeugen: 
Ministerialrat Dr. Wilhelmm Sickinger
Wirklicher Hofrat Dr. Wolfgang Kotz
Wirklicher Hofrat Dr. Meinrad Rohracher
Frau Dr. Erika Weinzierl (Staatsarchivar), die dabei als Stenotypistin fungierte.

Es muß zwischen dem 10. und 20. Oktober 1919 gewesen sein, als mir anläßlich eines wochenlangen Herbstaufenthaltes auf Schloß Ellischau mein angeheirateter Cousin Heini Taaffe eines abends sagte, ob ich, als die Enkelin des damaligen Polizeipräsidenten Baron Krauß, nicht Interesse daran hätte, die Originalakten zu lesen, die anläßlich der Mayerling-Tragödie zwischen meinem Großvater und dem Vater des Heini Taaffe hin und hergegangen waren.  Er habe nämlich die Absicht, sie zu verbrennen, denn sein Vater, der diese Akten aus dem Staatsarchiv nach Ellischau gebracht hatte, wollte nicht, daß deren Inhalt jemals bekannt würde.  Nun denke auch er schon ans Ordnungmachen und hatte deshalb diese Absicht gefaßt.

Ich ging natürlich mit brennendem Interesse darauf ein - ich war damals ein Mädchen von 22 Jahren - nahm die Akten mit auf mein Zimmer und las sie noch in der gleichen Nacht mehrmals durch.

Es waren zirka 25 Berichte auf dickem Ministerpapier. Links oben der Vermerk „Streng reservat".  Der Minsterpräsident an den Polizeipräsidenten und umgekehrt.  Die Anrede war „Eure Exzelenz".

Am inhaltsreichsten waren natürlich die Polizeiberichte über den Tatbestand in Mayerling.

Bald nachdem der Kronprinz in sein Schlafzimmer hinaufgegangen war, hörte man Schüsse und eilte hinauf.  Aber die Türe war versperrt, man konnte sucht hinein Als die Türe durch den Grafen Hoyos und den Kammerdiener (oder Leibjäger) aufgebrochen worden war, sah man beide, den Kronprinzen und die Baronesse Vetsera, als blutüberströmte Leichen in den Betten liegen. Über die Aussagen dieser beiden, was sie alles wahrgenommen hätten, folgten lange Berichte.  Dann die Obduktionsprotokolle.

Der Kronprinz hatte sich in den Mund geschossen, das Gehirn war herausgespritzt und pickte teilweise an den Wänden. Bei ihr war die Halsschlagader von der Seite getroffen worden. Ein gestockter Blutstrom ergoß sich vom Mund bis zu den Füßen. (Ein Umstand, der mir besonderen Eindruck machte und den ich mehrmals gelesen habe.) Die Vetsera war in der Hoffnung gewesen, im 3. oder 5. Monat (das weiß ich nicht mehr genau, aber daß sie es war, stand dort ganz bestimmt.) Man legte sie, wie sie war, in ein finsteres, verstaubtes Abstellkammerl, nackt auf einen Tisch und deckte sie mit ihren Kleidern und ihrem Pelz zu und ließ sie einfach so liegen.  In diesem Zustand hat sie ihr Onkel Baltazzi später gefunden.

Dem Kronprinzen wurde der Kopf verbunden und er wurde in seinem Bett halbwegs aufgebahrt. (Den Revolver hatte man in seiner Hand gefunden.) Baltazzi und ein Helfer von der Polizei (ich glaube, Baron Gorup) wuschen später die Leiche (1) so gut sie es konnten, zogen sie an und dann wurde sie auf die bekannte Weise in einen offenen Wagen gesetzt, angebunden, der Polizeibeamte nahm neben ihr Platz und auf diese Weise wurde sie nach Heiligenkreuz gebracht (damit die Leute glauben sollten, daß sie noch lebe!) wo sie bei Nacht und Nebel in aller Stille nur in Anwesenheit ihres Onkels begraben wurde. Zuletzt war aber scheinbar doch erlaubt worden, daß ein Geistlicher dabei Gebete sprach.
Am nächsten Morgen gab ich Heinrich Taaffe die Akten zurück- Er nahm mir kein Versprechen ab darüber nicht zu reden.  Am nächsten Tag teilte er mir mit, daß er die Akten verbrannt habe. Ich war nicht dabei gewesen.)
Mein Großvater hat über seinen Akt - jenen, der 1955, in Berlin gefunden wurde -  mit uns niemals gesprochen.  Ich dachte, die von mir gelesenen seien die einzigen gewesen. Ich habe jedenfalls immer wieder die Wahrheit gesagt, wenn wieder Pamphlete über Mayerling erschienen, was aber wenig nützte.

Anmerkung:
(1) damit ist die Leiche Marys gemeint
 

 

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